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7. Das Bewusstsein der Obdachlosen und ihrer Helfer am Beispiel des „Asphalt“-Magazins
Das Magazin gibt sich unabhängig, es sei „weder von Kirche noch von Land oder Kommune abhängig“. (www.asphalt-magazin.de/6faq/faq.htm) Es will Obdachlosen helfen, indem es die Verkäufer am Erlös beteiligt und für ihre Interessen eintritt; es ist aber ein Projekt des „Diakonischen Werkes“. Damit ist die allgemeine Richtung vorgegeben. Es fordert staatliche und private Hilfe, ohne die Ursachen der Obdachlosigkeit und Verelendung zu kritisieren. Bestenfalls die Symptome werden angesprochen, nicht ein Wirtschaftssystem, das notwendigerweise Menschen ausgrenzen muss, weil sie nicht mehr produktiv sind und nur noch Kosten verursachen.
Das Blatt bevorzugt den human touch als Auswahlprinzip, von professionellen Journalisten gemacht. Das Denken bleibt dabei im Gefühl - und sei es das der Hilfsbereitschaft - befangen.
Stattdessen in jedem Heft, das monatlich erscheint, eine halbe Seite Devotionalien in Form von Auflistung der Spender, die durch ihr in Gang halten des Wirtschaftssystems die Verelendung erst erzeugen. Auch die einzelnen Beiträge, von professionellen Journalisten verfasst, bewegen sich auf der Ebene der Symptome: „Arbeitslose fordern ‚Sozialticket“, nämlich von den Verkehrsbetrieben, damit wie in Berlin Verarmte billiger U-Bahn fahren können. „Ein Sozialticket für alle ALG-II- und Sozialhilfeempfänger zum Preis von 19 Euro monatlich forderte jüngst die Gruppe WASG-Parteilos/PDS in der Regionsversammlung.“ (Asphalt, 12,05, S. 22) Da das Nahverkehrsunternehmen „Üstra“ in Hannover nach kapitalistischen Rentabilitätskriterien arbeitet, die Älteren erinnern sich noch an die Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen und die „Rote-Punkt-Aktionen“, müsste sie anderswo die Preise erhöhen, d.h. die übrigen Lohnabhängigen bezahlen den Mobilitätsgewinn der sozial Schwachen,
nicht der Staat. Selbst wenn es gelänge, den Staat zu einem Zuschuss zu bewegen, wäre es zwar eine Erleichterung, aber keine Lösung des Armenproblems.
Individuelle Hilfe mag dem Einzelnen nützen, z.B. die große Spendenbereitschaft auf dem Weihnachtsmarkt. Man beruhigt sein Gewissen, aber die Ursachen der Obdachlosigkeit werden dadurch nicht beseitigt.
Ebenfalls auf dem Symptomniveau befindet sich der „Soziale Stadtrundgang“. Er spricht vor allem die gebildete und sozial-engagierte Mittelklasse an, die sich in der Illusion wiegen will, etwas getan zu haben. „Der im November gestartete Soziale Stadtrundgang von Asphalt hat regelrecht eingeschlagen. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Führungen im Schatten teurer Fassaden zu den Orten, wo Wohnungslose keine Randgruppen sind, bis in den Januar ausgebucht.“ (Asphalt, 12,05, S. 23) Sie spenden mit ihrer Teilnahmegebühr und dürfen sich auch noch gruseln bei der Besichtigung des Elends: „Melden Sie sich an und erleben Sie mit den Asphalt-Verkäufern Hartmut und Wolfgang die Straße völlig neu: als Wohnort von Menschen, die kein eigenes Zuhause haben.“ (Ebda)
Am ehesten für dieses Thema sind noch die Berichte „Aus der Szene“ lesbar, wenn Obdachlose von ihrem Schicksal berichten. Zwar ist auch hier kein kritisches Bewusstsein anzutreffen, aber wer will es den Depravierten verdenken, wenn sie ihr Elend schildern, vielleicht sogar übertreiben, um Mitleid zur erregen. Hasso erzählt von sich: „Ich komme aus eher schwierigen Verhältnissen, wie man so sagt. (...) meinen Vater kenne ich nicht (...) Nach der Wende bin ich in den Westen. Habe bei einer Gummitechnologie-Firma gearbeitet. Bis diese 2003 Insolvenz anmeldete und ich in die Arbeitslosigkeit rutschte.
Ich habe einiges unternommen, um da rauszukommen: LKW-Führerschein gemacht, drei Praktika bei verschiedenen Firmen – aber keine hat mich übernommen.
Seit November 2004 darf ich Asphalt verkaufen.“ (Asphalt 8, 05, S. 18)
Denen es wirklich schlecht geht, kommen wahrscheinlich im „Asphalt“ nur vor, wenn sie verreckt sind und noch dazu öffentlich Aufsehen erregt haben. Hasso dagegen, der aus Halle kommt und jetzt in Barsinghausen haust, wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich ausgebeutet zu werden. „Der wichtigste Traum in meinem Leben aber ist, wieder zurück ins ‚richtige Leben’ zu kehren: eine eigene Wohnung zu haben, eine Firma zu finden, die es ernst meint und mich einstellt.“ (Ebda)
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8. Alternativen
Nicht die schlechteste Alternative, anstatt in Depression zu verfallen, drogenabhängig zu werden oder gar im Winter zu erfrieren, ist es, das persönlich Beste aus seinem Los zu machen und in den Süden zu tippeln. So wandert der „arbeitssuchende“ Diplom-Psychologe auf den Europäischen Fernwanderweg E 1 von Schweden nach Süditalien. Er nimmt sich das Recht, seine Obdachlosigkeit zu nutzen, um sich am Leben zu erfreuen. Doch ohne Gegenleistung kann selbst der „lachende Vagabund“ (alter Schlager) Bernd Buchholz nicht existieren, er muss zumindest den guten Leuten Grund zur Nächstenliebe geben. „’Die Welt ist wie ein Spiegel, lächle ich, so lächelt sie zurück’. Buchholz ist gläubiger Christ und vertraut darauf, dass Nächstenliebe wirklich existiert. 98 Tage und Nächte war er unterwegs, am 6. August dieses Jahres ist er wohlbehalten in Genua angekommen. Wann immer er es brauchte, erhielt er ein Nachtlager, einige wenige Male nur übernachtete er im Freien. Auch Essen und Trinken musste er nicht entbehren.“
(Asphalt, 12,05, S. 26)
Jeder muss einen Espresso in einer Bar trinken können, ohne sich fragen zu müssen, ob sein Portmonee es erlaubt.
Ehrlicher ist da schon der Zynismus von Karin Powser, die eine Kolumne in „Asphalt“ hat. Sie konterkariert in der letzten Ausgabe das Weihnachtsgedudel der Naiven: „Leise rieselt der Schnee schon lange nicht mehr.“ „Es kommt ein Schiff ge-la-ha-den..., so überladen mit Flüchtlingen, dass es im Meer versinkt.“ „Zum Schluss heißt es schließlich laut grölend: Stille Nacht! Heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht der Obdachlose unter der Brücke oder auf der Parkbank.“ (Asphalt, 12,05, S. 20) Doch auch solche Kritik schafft es nicht, die wahren Ursachen des Elends anzugehen. Auch Karin Powser fordert nur - wenn auch auf originelle Weise - bessere Versorgung: „Zu guter Letzt: Weihnachtshilfe ist mir bei der Grundsicherung gestrichen worden. Und ich streiche die Weihnachtsgrüße. Sorry.“ (Ebda)
Wir leben historisch in einer Gesellschaft mit riesigem Reichtum. Kapitalismus ist prima vista eine „ungeheure Warenansammlung“ (Marx). Niemand brauchte auf dem heutigen Stand der Produktivkräfte mehr hungern oder obdachlos zu sein, alle Menschen könnten im Wohlstand leben, wenn dieses Wirtschaftssystem nicht die permanente Tendenz in sich aktualisierte, Menschen in Armut und Elend zu stürzen, sie in Kriegen und Krisen zu töten. Die einzige Möglichkeit, Armut und Elend abzuschaffen, den Gedemütigten und Beleidigten ihre Würde wieder erlangen zu lassen, ist es, diese leichenträchtige Ökonomie abzuschaffen. Dazu können auch die Obdachlosen beitragen, indem sie ihre Situation nicht als individuelles Schicksal hinnehmen, bloß einen privaten Ausweg aus ihrer Misere suchen, sondern sich organisieren, sich mit den anderen Lohnabhängigen zusammentun, um an einer revolutionären Veränderung zu arbeiten. Nur die Masse kann etwas gegen das Kapital und seine Ökonomie ausrichten. So richtig es ist, unmittelbare Hilfe zu fordern, denn ohne diese wäre die eigene Existenz gefährdet, so wichtig ist es aber auch, darauf hinzuweisen, dass in der kapitalistischen Produktionsweise die Verelendung nicht beseitigt werden kann. Ein Obdachloser, der dies begriffen hat, besitzt mehr Würde als alle Spießer zusammen, die sich beim sozialen
Stadtrundgang gruseln lassen.
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