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Ethik und Moral Titel

Inhalt 

Gibt es einen freiene Willen?
 Die neuesten Angriffe der „Hirnforscher“ auf den Begriff des „freien Willens“ (2004/2007)

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Anmerkung zur Folterdebatte

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Menschenrechtsfragen sind Vernunftfragen

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Prinzipielle und pragmatische Beziehung zu den Menschenrechten
Zur Diskussion um die Menschenrechtsverletzungen in Kuba

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Wie viel Wert ist der Mensch?
Über das Fortschreiten der Euthanasie

Gegen Hans Albert
und seine Schule

 

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August 2004                                         Drucktext Button            

Gibt es einen freien Willen?

Die neuesten Angriffe der „Hirnforscher“ auf den Begriff des „freien Willens“

 So irrational dieser Angriff  sich auch erweist – er soll den Gegnern der gefestigten Verhältnisse auch noch die Möglichkeit bestreiten, diese Verhältnisse zu kritisieren. Eine verändernde Kritik und die Antizipation sozialistischer Verhältnisse erscheint dann als ein Verstoß gegen Naturgesetze, scheint also widernatürlich zu sein. 

Wissenschaftliche Forschung ist nicht nur durch das Streben nach Wahrheit motiviert, auch nicht nur nach verwertbaren Resultaten. Forschungsgelder, wissenschaftliche Karrieren und ideologische Bedürfnisse, also wissenschaftsfremde Aspekte, spielen ebenso eine Rolle. Für viele Forscher gilt publish or perish. Da wird schon einmal eine partikulare wissenschaftliche Einsicht zur philosophischen Revolution aufgebläht. Die meisten Naturwissenschaftler haben kein wahres Selbstbewusstsein über ihr Tun. Wenn sie philosophisches Wissen haben, dann als Erzählung aus einer Geschichte der Philosophie, nicht als Argumentation. Sie suchen sich dann die passende Erzählung für ihre Vorurteile heraus, ohne sie wirklich gründlich zu reflektieren. Meist sind es dann noch die heute vorherrschenden philosophischen Vorurteile. So blähen sie ihre nicht verstandenen metaphysischen Prämissen zu einer kruden Metaphysik auf, die sich als frei von Metaphysik ausgibt. Wirkung kann dieses amateurhafte Philosophieren nur deshalb haben, weil es ein ideologisches Bedürfnis der kapitalistischen Gesellschaft bedient.
  So hat der Neurophysiologe Benjamin Libet angeblich bewiesen, „dass der Mensch nicht weiß, was er tut“. (1)  Der Hirnforscher Wolf Singer überträgt diesen Gedanken in die Sprache der Philosophie und behauptet, dass der freie Wille des Menschen bloß eine kulturelle Illusion wäre. Die mehr an Trends und Karrieren orientierten Sozialwissenschaftler greifen diese angebliche Einsicht begierig auf. So heißt es in einem Spiegelartikel:
 „Jede Erziehung basiert auf der Überzeugung: Die Umwelt prägt. Jetzt aber, beeindruckt von den neuen Biowissenschaften, beginnt ein Teil der Sozialwissenschaftler den Rückzug anzutreten. Bewundernd blicken sie auf die Befunde der Neuro- und Genforscher und fragen sich, ob sie sich von ihrem bisherigen Denken verabschieden sollen.“ (2) 
  Benjamin Libet hatte vor Jahren angeblich herausgefunden, dass unser Gehirn vor einer bewussten Entscheidung bereits für uns entschieden habe. Im Spiegel-Artikel liest sich das dann so: „In dem Moment, da die Probanden glaubten, ihre Entscheidung zu treffen, waren die Neuronen in ihrem Gehirn längst aktiv. Mindestens eine drittel Sekunde vorher schon hatten sie die Entscheidung gefällt – das Bewusstsein kam zu spät.“  

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Was hat nun Libet wirklich herausgefunden? In einem seriösen Buch über das Verhältnis von Bewusstsein und Gehirn stellen die Autoren dieses Experiment etwas genauer dar:
  „Libet bat seine Versuchspersonen, zu einem willkürlichen, selbst gewählten Zeitpunkt einen Finger zu heben und den Augenblick, in dem ihnen ihr Vorsatz bewusst wurde, frühestmöglich zu registrieren, indem sie sich die Position eines wandernden Punktes merkten. Er stellte fest, dass das Einsetzen des Bereitschaftspotenzials grundsätzlich der Realisierung der eigenen Bereitschaft vorausging, und zwar im Schnitt um 350 bis 150 Millisekunden. Er schloss daraus, dass die zerebrale Initiation einer spontanen, völlig freiwilligen Handlung unbewusst stattfinden kann, das heißt, bevor es irgendein erinnerbares Gewahrsein dessen gibt, dass das Großhirn bereits den Entschluss gefasst hat zu handeln. Damit sieht es ganz danach aus, als setze das Gewahrwerden einer motorischen Intention, genau wie das Wahrnehmen eines sensorischen Stimulus, eine zugrunde liegende neurale Aktivität voraus, die eine beträchtliche Zeit hindurch – in der Größenordnung von 100 bis 500 Millisekunden – anhalten muss.“ (3)
  In dem bereits zitierten Spiegelartikel wird daraus und anderen angeblichen Einsichten der Hirnforschung die Abschaffung des Ich:  „Die Abschaffung des Ich – eine Horrorvision? Nein, findet die britische Psychologin Susan Blackmore. Sie ist Dozentin an der Universität of the West of England in Bristol und sagt: ‚Wenn man jemand den Schädel öffnet, dann findet man keine Seele. Man findet Gehirnzellen. Kein Selbst ’.“ (4) 
  Wir sind keine Neurophysiologen, aber das vor einer Entscheidung Hirnaktivitäten stattfinden, ist keine Überraschung. Jeder, der seinen Blutdruck regelmäßig messen muss, weiß z.B., dass er ansteigt vor wichtigen Entscheidungen. Die Hirnaktivitäten erhöhen sich vor jeder bewussten Entscheidung – das ist durch dieses Experiment bewiesen, aber mehr auch nicht. So schreiben Edelman und Tononi: „Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas richten, uns konzentrieren oder in unserem Bewusstsein nach etwas kramen, wenn wir darum ringen, uns an etwas zu erinnern, wenn wir eine Zahl oder eine Vorstellung in unserem Arbeitsspeicher auf Vorrat halten, eine Kopfrechnung durchführen oder uns eine Szene vergegenwärtigen, wenn wir tief in Gedanken versunken sind, Künftiges planen oder irgendetwas aushecken, wenn wir versuchen, uns die Konsequenzen unserer Planungen und Vorhaben zu vergegenwärtigen, wenn wir mit einer Handlung beginnen oder uns willkürlich zwischen mehreren Alternativen entscheiden, wenn wir unseren Willen durchsetzen oder mit einem Problem ringen, dann ist Bewusstsein aktiv und anstrengend.“ (5)
  Dass Wahrnehmungsprozesse und Entscheidungsprozesse eben Prozesse sind und eine gewisse Zeit benötigen, ist kein Grund, dem Menschen einen freien Willen abzuspreche24.04.2014ng wird mir in ca. 250 Millisekunden bewusst. Wenn Bewusstsein (einschließlich der freie Willen) mit neuronalen Prozessen im Gehirn verbunden ist, dann hat der freie Wille sein materielles Korrelat, wie andererseits die Gehirnaktivität ab einer bestimmten Stärke zu Bewusstsein führt (z.B. verursacht durch unwillkürliche Berührung). Wie das Verhältnis von konkreten Gedanken und seinem neuronalen Korrelat ist, das ist bisher etwas völlig Unerforschtes und evtl. auch gar nicht erforschbar, vor allem wenn man bedenkt, dass ein Gedanke mit verschiedenen neuronalen Zuständen korrelieren kann. (6) 
  Außerdem ist der Philosophie schon längst bekannt: Völlig willkürliche Entscheidungen werden am ehesten durch körperliche Impulse oder frühere Erfahrungen oder Unbewusstes bestimmt, der „freie Wille“, wie er in der Philosophie bestimmt ist, ist durch die Vernunft geprägt und nicht durch die mehr körperliche Spontaneität beim Fingerheben. Hebe ich z.B. meinen Finger auf rational geplante Weise, z.B. die ersten drei Mal den rechten und die weiteren fünf Mal den linken Finger, dann betätige ich auch mein Vermögen des feien Willens, ohne dass neuronale Aktivitäten vor sich gehen wie beim spontanen Fingerheben – sondern eben andere, die mit dem Denken korrelieren. Der Entscheidung des freien Willens in dieser Bedeutung gehen Überlegungen voraus, deren Endresultat erst der eigentliche Entschluss zur Tat ist. Was bei Libet gemessen wurde, ist eine unter vielen Möglichkeiten willentlicher Entscheidungen.  

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  Nur  wenn man unterstellt, dass es kein Ich, kein Selbst, kein immaterielles Bewusstsein gibt, kann man sagen, die Hirnzellen treffen die Entscheidungen für uns selbst. Die Schlussfolgerung von Libet u.a. ist zirkulär, weil sie das zu Beweisende bereits in der Prämisse ihres Schlusses voraussetzen. Könnte es nicht auch sein, dass der menschliche Geist oder der freie Wille, der immer als immateriell, als Aspekt der Vernunft gedacht wurde, den Erregungszustand des Gehirns erst in die eine oder andere Richtung auslöst. Im übrigen beruht der freie Wille, insofern er nicht nur ein sinnliches Begehren ist, auf vorgängigen Erfahrungen, Einsichten und Wissen und ebenso auf Vernunft, die eben auch körperlich im Gehirn verankert sein muss, wenn wir uns ihrer erinnern. Das Verhältnis von Körper und Geist (Immaterielles) ist derart komplex, dass eine Deutung des Libet-Experiments, die den Menschen den freien Willen abspricht, eine monokausale Reduktion ist und damit falsch. Nur wenn man das Vorurteil, es gäbe keinen Geist, kein Immaterielles als Prämisse in die Deutung einbringt, scheint die Schussfolgerung aufzugehen. Für die seriöse Neurophysiologie ist in der Gegenwart das Gehirn-Bewusstsein-Problem aber bestenfalls hypothetisch deutbar. (7)
  Von einer argumentierenden Philosophie ausgehend stellt sich die Frage nach dem freien Willen ganz anders dar, als in der noch unsicheren Wissenschaft der Neurophysiologie. Der freie Wille ist nach Hegel die Übertragung eines Gedankens in die Wirklichkeit durch unser Tun. Und der freie Wille hat die Fähigkeit zwischen Alternativen zu wählen. (Die Unterscheidung von bloß sinnlichem Begehrungsvermögen und freien Willen bei Kant, die Hegel relativiert, ist ein Thema für sich, das hier nicht von Interesse ist.) Sind Handlungen materielle Vorgänge, so ist der Wille ein Vermögen unseres Denkens, also etwas Immaterielles, das aber auf materielle Dinge, unseren Körper und seine Gegenstände wirkt. Dass dieser Übergang auch ein immer erneuter Anstoß zum Nachdenken war, soll hier nicht verschwiegen werden. Aber den freien Willen abzustreiten, ist nicht möglich.
  Einen Satz im europäischen Sprachraum zu formulieren, bedarf es der Verbindung von grammatischen Subjekt und Prädikat. Diese Verbindung, die beide synthetisiert zu einem neuen Gedanken, der nicht vorher schon in den einzelnen Begriffen enthalten war, lässt sich nicht in der Natur vorfinden, auch nicht in den Vorgängen des Gehirns, sie ist nur vorstellbar als kreativer Akt des Bewusstseins, der ohne das Vermögen des freien Willens nicht denkbar ist. Gewiss kann das Gehirn bestimmte wiederkehrende Gedanken routinieren, so dass wir sie ohne größere Gehirnaktivität reproduzieren können, aber schon die Entscheidung, Gedanken zu reproduzieren, hat wieder den freien Willen zur Voraussetzung. Der freie Wille lässt sich zwar nicht direkt beweisen, denn dann hinge er von Prämissen ab, wäre also begründet oder bedingt und dadurch eben nicht frei. Wohl aber lässt sich der freie Wille indirekt begründen durch einen apagogischen Beweis. Vorausgesetzt ist, das Wahrheit gedacht wird als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand. Der Satz: „Es gibt keinen freien Willen“, wird von Singer und anderen als wahr behauptet. Um diese Wahrheit zu erkennen, muss das Bewusstsein diesen Satz mit seinem Gegenstand, dem Vermögen des freien Willens im Bewusstsein vergleichen und entscheiden, ob im Bewusstsein solch ein Vermögen vorkommt oder nicht. Diese Überprüfung von Aussage und Gegenstand (Vermögen des freien Willens) ist aber bereits die Betätigung des freien Willens. Denn ohne diesen könnte ich nicht aus der quasi unendlichen Mannigfaltigkeit von Bewusstseinszuständen die obige Aussage mit dem Ausgesagten vergleichen bzw. dieses Ausgesagte als vorhanden oder nicht annehmen. Unabhängig davon, ob ich einen freien Willen empirisch nachweisen kann oder nicht, ist der freie Wille in der Untersuchung dieses Problems immer schon vorausgesetzt. Die Überprüfung dieser Aussage ist bereits die Betätigung des freien Willens. Also muss der freie Wille als notwendige Bedingung der Möglichkeit von Aussagen, die ich als wahr behaupte, angenommen werden.  

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  Argumentiert man als Hirnforscher noch radikaler und sagt, das Bewusstsein des Menschen kann überhaupt keine wahren Aussagen machen, dann unterstellt man in dieser Variante ein völlig vom Gehirn determiniertes Bewusstsein (wie es das obige Zitat von Susan Blackmore andeutet (4)). Ein solches Bewusstsein hätte keinerlei Freiheit in sich, seine Aussagen zu falsifizieren oder zu verifizieren, es könnte also auch gar keine Aussage über die Determiniertheit des Bewusstseins  machen. Der Mensch wäre – wie schon Aristoteles wusste - wieder auf dem Niveau einer Pflanze angelangt, d.h. er könnte gar keine Aussagen machen, oder mit Hegel gesprochen könnte er nur noch grunzen wie die Affen bzw. seine Aussagen wären nur grunzen. Man kann also dem zustimmen, was schon Kant über den Hirnforscher gesagt hat, er kann den Naturursachen des Bewusstseins  nachgrübeln, „worauf z.B. das Erinnerungsvermögen beruhen möge, kann über die im Gehirn zurückbleibenden Spuren von Eindrücken, welche die erlittenen Empfindungen hinterlassen, hin und  her (nach dem Cartesius) vernünfteln, muß  aber  dabei gestehen: daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer Zuschauer sei, und die Natur machen lassen muß, indem er die Gehirnnerven und Fasern nicht kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner Absicht versteht (...).“ (8) 
  Da die Hirnforscher inzwischen einiges über die „Gehirnnerven und Fasern“ herausgefunden haben, bilden sie sich ein, damit auch konkrete Gedanken und das rationale Bewusstsein zu erklären oder doch in Zukunft erklären zu können. Das aber ist unmöglich, eine prinzipielle Schranke dieser Wissenschaft, die nicht überspringbar ist. Bestenfalls kann die Hirnforschung zur Heilung von Krankheiten beitragen, helfen besser Lernprozesse zu organisieren oder das Problem Geist-Materie von der Gehirnseite einer Lösung näher bringen, aber nur, wenn sie sich der Grenzen ihres Gegenstandes bewusst bleibt und sich nicht als neue Universalwissenschaft aufspielt. So wie die Logik es nicht mit dem zu tun hat, wie wir wirklich (empirisch) denken, sondern wie wir denken sollen, damit unsere Gedanken wahr sind, so geht wissenschaftliches Denken auf allgemeine Gegenstände unabhängig von den zugrunde liegenden Gehirnaktivitäten, auch wenn beim Menschen überhaupt solche vorausgesetzt sein müssen. Die naturwissenschaftliche (man muss wohl sagen empiristische) Illusion, auch noch den freien Willen als determiniert zu erweisen, ist lediglich logischer Blödsinn.
  Wenn sich so offensichtlich die philosophischen Überhöhungen der Gehirnforschung widerlegen lassen und der freie Wille eine notwendige Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Tätigkeit, also auch die der Gehirnforscher ist, die ihn bestreiten, dann muss auf die gesellschaftlichen Gründe für die falschen Thesen einiger Hirnforscher, die in populäre Zeitschriften eingehen, reflektiert werden. Die soziale Funktion dieser Art Hirnforschung kann man bei den schon erwähnte Wolf Singer studieren.
  Der freie Wille ist für ihn nur eine, wenn auch wirkmächtige Illusion. „Beim freien Willen ist es doch so, dass wohl fast alle Menschen unseres Kulturkreises die Erfahrung teilen, wir hätten ihn. Solcher Konsens gilt im Allgemeinen als hinreichend, einen Sachverhalt als zutreffend zu beurteilen. Genauso zutreffend ist aber die konsensfähige Feststellung der Neurobiologen, dass alle Prozesse im Gehirn deterministisch sind und Ursache für die je folgende Handlung der unmittelbar vorangehende Gesamtzustand des Gehirns ist. Falls es darüber hinaus noch Einflüsse des Zufalls gibt, etwa durch thermisches Rauschen, dann wird die je folgende Handlung etwas unbestimmter, aber dadurch noch nicht dem ‚freien Willen’ unterworfen.“ (9)   Aus dieser deterministischen These ergibt sich für Singer ein „neues Menschenbild“, in dem wir scheinhuman „ein wenig toleranter“ werden, z.B. mit Straftätern, die zwanghaft morden. „Ich muss den Betreffenden also zunächst einmal daran hindern, dass er seine Tat wiederholen kann und zweitens versuchen, ihn durch erzieherische Maßnahmen, durch Verhaltensbeeinflussung, zum Besseren hin zu bewegen. Ich muss daran arbeiten, diejenigen Attraktoren in seinem Gehirn zu stärken, die die fragliche Tötungsschwelle höher setzen würden. Wir würden Straftäter also wegsperren und bestimmten Erziehungsprogrammen (an anderer Stelle spricht er von „therapeutischen“ Programmen, Erin.) unterwerfen, die durchaus auch Sanktionen einschließen würden.“ (10)  Da dieser Gedanke aus einer neuen „Betrachtungsweise“ resultiert, kann man das Beispiel auch weniger dramatisch auswählen. Jeder, der Gesetze oder Regeln bricht, muss „erzieherischen Maßnahmen“ unterworfen werden. Er wird nicht als freier Mensch angesehen, der vielleicht rationale Gründe für sein abweichendes Verhalten hat, sondern als Objekt von Erziehungsmaßnahmen. Es wird ihm also das abgesprochen, was sein Menschsein ausmacht. Er wird quasi zum Kranken oder zum ungezogenen Hund, der durch Belohnung und Strafe zum gehorsamen Hund erzogen werden soll. Nur dass seine Erzieher auch nur unmündige, subjektlose Erzieher sind, die blinden Mächten folgen, die ihnen das Erziehungsprogramm eingeben. „Die Annahme zum Beispiel, wir seien voll verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja auch hätten anders machen können, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar. Neuronale Prozesse sind deterministisch. Gibt man der nichtsprachlichen Hirnhälfte einen Befehl, führt die Person diesen aus, ohne sich der Verursachung bewusst zu werden. Fragt man nach dem Grund für die Aktion, erhält man eine vernünftige Begründung, die aber mit der eigentlichen Ursache nichts zu tun hat. Wir handeln und identifizieren die vermeintlichen Gründe jeweils nachträglich.“ (11)  Wer dann in der Gesellschaft mit ihren Regeln und Erziehungsmaßnahmen bestimmt, sind die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die ökonomischen Bedingungen. Wer sich diesen nicht unterordnet ist krank. Das, was die kapitalistische Gesellschaft aus den Menschen zu machen versucht, früher einmal kritisiert mit Begriffen wie psychische Verelendung, Entfremdung, Verdinglichung und Verblendung, wird von diesem Hirnforscher noch einmal nachträglich „naturwissenschaftlich“ legitimiert. Diese Art „Hirnforschung“ erweist sich als klassische Ideologie, ein falsches Bewusstsein zur Rechtfertigung bestehender Herrschaftsverhältnisse.
 Dass es auch explizit gegen gesellschaftliche Alternativen, die das kapitalistische System negieren, geht, zeigen die üblichen Floskeln gegen Veränderer. Wenn es keinen freien Willen gäbe, gälte: „Auch würden all jene unglaubwürdig werden, die vorgeben, sie wüssten, wie das Heil zu finden ist. Den mächtigen (!) Vereinfachern würde niemand folgen wollen.“ (12)  Mit solchen „konsensfähigen“ Pseudothesen will Singer und Konsorten sogar noch die Möglichkeit des Gedankens an eine gesellschaftliche Veränderung undenkbar machen. Das Bewusstsein soll im Bestehenden, das hermetisch geschlossen erscheint, verharren wie die Tiere im Stall, bis sie zur Schlachtbank getrieben werden. Die Medien der kapitalistischen Gesellschaft greifen solches Gewäsch begierig auf und verstärkt das Quaken dieser „Forscher“ zum ubiquitären Gedröhne.
  Für seine Verdienste  wurde Singer mit dem „Communicator-Preis“, der mit 50 000 Euro dotiert war, belohnt. Fragte man ihn, ob er diesen verdient habe, würde er wahrscheinlich antworten, dass aus ihm nur die gesellschaftlichen Bedingungen sprächen.  

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    Anmerkungen

(1)     Spiegel-Dossier: „Gibt es einen freien Willen.“ „Wunder Gehirn. Die Geburt des Ich“, Spiegel vom 1.11.2003, zitiert nach www.spiegel.de.
(2)     A.a.O.
(3)     Edelmann, Gerald M., Tononi, Giulio: Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht, München 2004, S. 99. (vgl. auch unsere Besprechung ihres Buches)
(4)     Spiegel-Dossier, a. a. O.
(5)     Edelmann und Tononi, a. a. O., S. 37
(6)     Vgl. Edelmann  u. Tononi: A.a.O., S. 135.
(7)     Im ganzen Buch von Edelmann und Tononi wird ständig von Hypothesen, begründeten Vermutungen usw. gesprochen!
(8)     Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke Bd. 10. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Zweiter Teil, Darmstadt 1975, S. 399.
(9)     Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Ffm. 2003, S. 32 f.
    (10)   A.a.O., S. 34.
    (11)   A.a.O., S. 20.
    (12)  Spiegel-Dossier: “Unser Wille kann nicht frei sein“, in: Spiegel special 4/2003

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