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Rezension

Die normativen Grundlagen der Kapitalkritik bei Marx

Eine Rezension des Buches von Frank Kuhne: Marx und Kant. Die normativen Grundlagen des Kapitals, Weilerswist 2022. Erste Auflage.
    Rezensent: Bodo Gaßmann

Inhalt

Teil II

Das "Faktum der Vernunft"

Kritik des Begriffs "Faktum der Vernunft"

Der Mensch als Selbstzweck als Maßstab der Kapitalkritik

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Das „Faktum der Vernunft“

„Rein“ ist die Vernunft, das Vermögen zu Ideen, die den Verstand anleiten, wenn sie nicht durch empirische Fakten und Erfahrungen oder allgemein aus der Heteronomie (wie der Gesellschaft oder der Natur) bestimmt ist, sondern aus ihrer eigenen Selbstgesetzgebung. Damit ihre reinen Begriffe (z. B. die Kategorien) Objektivität beanspruchen, können sie weder als angeborene Idee bzw. einfach aus der philosophischen Tradition eklektisch aufgelesen werden (Rationalismus), denn dies wäre eine irrationale Begründung, oder auch nicht aus der inneren Erfahrung bei der wissenschaftlichen Tätigkeit (Empirismus), weil Erfahrung immer nur zur komparativen Allgemeinheit reicht, die bloß problematisch ist im Gegensatz zu universalen Urteilen, die apodiktisch gelten. Kant argumentiert anderes: Wir haben existierende Wissenschaften, die in sich stimmig sind und sich als Bedingung der Möglichkeit der heutigen Gesellschaft bewähren (Praxiskriterium). Ihre Urteile gelten notwendig und universal. Das waren zu Kants Zeiten die Newtonsche Mechanik und die reine Mathematik. Damit wir reine Verstandes- bzw. Vernunftbestimmungen begründen können, die dann den Verstand, das Vermögen zu Begriffen aus der Empirie, organisieren, geht Kant von diesen existierenden wahren Wissenschaften aus und fragt nach den erkenntnistheoretischen Bedingungen ihrer Möglichkeit (transzendentale Begründung). Diese transzendental erschlossenen Bestimmungen sind u. a. die Kategorien (wie Allgemeines, Besonderes, Einzelnes), die deshalb auch wahr sein müssen.
   Für die praktische Vernunft, das Vermögen reine Moralgesetze bzw. kategorische (unbedingt geltende) Imperative aufzustellen, ergibt sich die Aufgabe, ihre Prinzipien des Handelns als allgemein geltende, unabhängig von empirischen Erfahrungen auszuweisen. Denn im Konkurrenzkampf der Menschen untereinander, so wie Hobbes ihn beschrieben hat (vgl. KrV, S. 688/B 780), können die Moralprinzipien nicht aus der Empirie erschlossen werden, diese ist für Kant Heteronomie – das Gegenteil der Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft: Autonomie. Menschliche Handlungen jedoch sind bestimmt durch die Willkür des Handelnden, das Material, auf das sie gehen, und die konkrete Situation mit ihren Zufällen. Nun sagt Kant, zwischen den konkreten Handlungen und einer strengen Allgemeinheit vermitteln die subjektiven Prinzipien des Handelns, die er entsprechend der moralischen Tradition (z. B. La Rochefoucauld) Maximen nennt. Sie sind bereits im Medium des Allgemeinen angesiedelt, auch wenn sie als subjektive noch keine universale Geltung haben. Z. B.: Immer wenn das Wetter zum Regen neigt, nehme ich einen Schirm mit. Lassen sich die Maximen verallgemeinern, sodass sie die Form strenger Allgemeinheit (als Sollensforderungen) annehmen, – z. B. wenn ein Mensch in unmittelbarer Lebensgefahr ist und ich helfen kann, muss ich helfen –, dann wird aus dieser subjektiven Maxime eine objektive. Aus diesen Überlegungen folgt für Kant die erste Gestalt des kategorischen Imperativs (nach der GMS) bzw. das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ (nach KpV): „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Kant: KpV, S. 140/A 54) Dieser kategorische Imperativ (oder auch „Sittengesetz“) ist bloß formal, gerade dadurch kann er aber für alle besonderen Maximen gelten. „Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht, und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen.“ (A. a. O., S. 142) Nun hat dieser kategorische Imperativ mit konkreten subjektiven Maximen nichts zu tun (z. B. die Regenschirmmaxime). Wenn er jedoch die „oberste Bedingung aller Maximen“ sein soll, dann muss eine Verbindung zwischen den technisch-praktischen und pragmatisch-praktischen (organisierenden) Maximen zu dieser obersten Bedingung denkbar sein, auch wenn Kant darauf wenig eingeht und Kants kategorischer Imperativ von einigen ins Absurde überführt wurde (er gelte nur sich selbst). Es lässt sich aber eine Hierarchie von Maximen und Zwecken denken, deren oberste dann unter der Bedingung des kategorischen Imperativs steht. So kann die Maxime, einen Regenschirm mitzunehmen, unter der Maxime stehen, meinem Freund am anderen Ende der Stadt einen Rat zu erteilen. Diese steht unter der Maxime: Zur Freundschaft gehört gegenseitige Hilfe. Eine andere Maxime könnte lauten: Ich halte es für angebracht, meinen Konkurrenten, weil er mich bedrängt, sein Fahrzeug zu sabotieren. Diese Maxime steht unter der höheren Maxime, den Maßstab meines Handelns ist allein mein Eigennutzen. Nach dem kategorischen Imperativ ist die erste Maxime moralisch, weil verallgemeinerbar, die Maxime des zweiten Beispiels unmoralisch, weil nicht verallgemeinerbar.
   Kant hat in der GMS das Sittengesetz entsprechend der KrV „deduziert“, indem er den praktischen Gebrauch dieses Imperativs als Bestätigung anführt (vgl. etwa GSM S. 83). Dagegen führt Kant jedoch in der KpV aus, dass man „in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben konnte“ (KpV, S. 161/A 81), woraus folgt, eine transzendentale Deduktion sei unmöglich. Kant erklärt deshalb das Sittengesetz als einziges „Faktum der Vernunft“, quasi wie eine unmittelbare Evidenz der reinen praktischen Vernunft (vergleichbar ist das etwa mit der Einsicht in den Satz des Thales usw., der auch unmittelbar evident ist). Dass es dennoch eine Deduktion geben kann, habe ich mit Streichert gezeigt, nämlich als Verallgemeinerung einer notwendig geltenden Maxime der Wissenschaft: die Wahrheit herauszufinden – diese ist nicht empirisch, aber dennoch jeder wissenschaftlichen Tätigkeit, die Resultate haben will, vorausgesetzt, unabhängig davon, was sich das Wissenschaft betreibende Individuum einbilden mag. (Siehe Gaßmann: Ethik, S. 163)
   Gilt das Sittengesetz und damit die praktische Vernunft, dann eröffnet sich allerdings eine Schwierigkeit, die Kants apriorische Moralphilosophie insgesamt betrifft. Wenn das Kapital nicht nur die Ökonomie bestimmt, sondern die ganze Gesellschaft unter sich subsumiert hat bis in die Charaktere der Menschen hinein, dann sind auch alle technisch-praktischen und pragmatisch-praktischen Maximen und Zwecke durch die kapitalistische Heteronomie tingiert. Meinen Freund zu beraten, kann auch dadurch motiviert sein, ihm etwas aufschwatzen zu wollen (unmoralisch), die Sabotage eines Fahrzeuges von illegitimen Repressionsorganen kann ein Akt des praktisch-notwendigen Widerstandes sein (evtl. moralisch erlaubt). Letztlich sind alle unsere Handlungen und ihre subjektiven Maximen und Zwecke kontaminiert durch die Heteronomie der kapitalistischen Gesellschaft. Bereits ein normaler Kauf von nötigen Konsumgütern verhilft dem Kapital, seinen Mehrwert, der in den Waren steckt, zu realisieren, der Kauf macht mich als Käufer also moralisch schuldig, an der Ausbeutung der unmittelbaren Produzenten (Lohnarbeiter) beteiligt zu sein.
   Dieses Dilemma, in das sich heute jede Vernunftmoral verstrickt, dadurch zu beseitigen, dass man die Moral insgesamt negiert, wie es der vorherrschende moralische Nihilismus oder der platte Materialismus machen, führt direkt zur Affirmation der antagonistischen Verhältnisse mit ihren brutalen Folgen. Die Vernunftmoral kann aber die Funktion erfüllen, Maßstab der Kritik an diesen Verhältnissen zu sein. Eine solche Kritik hat dann die Intention, solche Bedingungen zu bezwecken, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen, mithin moralisches Handeln gestatten. (Vgl. S. 374) Marx hat dies unter dem Begriff der „Empörung“ (K I, S. 790 f.) angedeutet. „Erkennt nämlich der Adressat des unbedingten Sollens, dass die Bedingungen, unter denen er zu handeln gezwungen ist, sein moralisches Handeln systematisch torpedieren, und erkennt er weiter, dass diese Bedingungen nicht naturgegeben und unveränderbar sind, sondern gesellschaftlich hergestellt und veränderbar, dann muss das seine Empörung über und seine Kritik an diesen Verhältnissen provozieren.“ (S. 373) Dazu ist allerdings eine gesellschaftstheoretisch fundierte Urteilskraft notwendig. Für die an der marxschen Kapitaltheorie Orientierten, die eine Vernunftmoral leugnen, gilt: „Eine Kritik der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, die ihre eigenen normativen Voraussetzungen negiert, bezahlt dies ebenfalls mit Inkonsistenzen. Sie ist bloße Ideologie oder Weltanschauung.“ (S. 339). Auch wenn der kategorische Imperativ nicht durchgängig gelebt werden kann (außer vielleicht im privaten Bereich), kann er doch als Maßstab der Kritik der antagonistischen Verhältnisse gelten, die seine Realisierung im Leben verhindern, und er kann ein Prinzip einer höheren Form der Gesellschaft sein, also in das Ziel der Veränderung eingehen. (Vgl. Gaßmann: Manifest, Kap. 10)
   Für Kuhne ist dieses „Grundgesetz“ oder „Sittengesetz“ noch aus einem anderen Grund als Maßstab der Kritik entscheidend, nämlich gerade seine Bestimmung als „Faktum der Vernunft“. Zwar kritisiert er diese Formulierung: „Ein Faktum ist etwas, das empirisch vorhanden ist und als Vorhandenes vorgefunden wird. Reine praktische Vernunft ist das Vermögen, ‚ohne Beimischung irgend eines empirischen Bestimmungsgrundes, für sich allein‘ (KpV A 163) die Willkür zu bestimmen.“ (S. 66) Dennoch macht er das Sittengesetz stark, weil Kant hier „auf die wohl beinahe jedermann vertraute Erfahrung verweisen“ kann, wo er es nicht beachtete (S. 63), gerade dadurch werde es ihm bewusst. Er stimmt Kant zu, der „nachweisen will, dass sich jeder des moralischen Gesetzes explizit vergewissern kann, weil es ihm implizit immer schon in Gestalt einer moralischen Nötigung bewusst ist“ (S. 63). Und schließlich sagt Kuhne: „Kants Unterstellung, dem Menschen stehe im Alltag das moralische Gesetz ‚jederzeit vor Augen‘ (GMS, B 17), jedermann müsse zugeben, dass er in einer gegebenen Situation moralisch handeln könnte, wenngleich niemand mit Sicherheit vorhersagen könne, dass er auch tatsächlich so handeln werde (KpV, A 54 Anm. 4), hat eine große Plausibilität.“ (S. 65) Allerdings, wenn in kapitalistischen Gesellschaften dieses Sittengesetz nicht durchgängig anwendbar ist, dann sinkt auch seine Plausibilität – zumal das unmoralische Verhalten meist gar nicht offensichtlich ist aufgrund der ökonomischen Mechanismen, die nicht an der Oberfläche erkennbar sind.
   Mit der Argumentation zum Faktum der Vernunft, die Kuhne von Kant übernimmt, verschafft sich der Autor sozusagen eine Massenbasis für den moralischen Maßstab der Kritik, wie er sie für die Kapitaltheorie von Marx benötigt. Und Kuhne behauptet dann noch: „Moralität kann Kant zufolge nicht diskursiv begründet, sie kann nur expliziert werden.“ (S. 64) Und weiter: „Der Adressat ihrer Explikation ist mithin der über moralische Selbsterfahrung verfügende Mensch und nicht der Psychopath, dem diese fehlt. Wer kein Gefühl der moralischen Nötigung kennt, dem kann es auch nicht demonstriert werden.“ (S. 64)
   Gegen die Faktum-These ist einzuwenden, dass es sehr wohl eine rationale Begründung für das Sittengesetz gibt. Diese kann nicht aus einer Deduktion aus Prämissen bestehen, weil diese selbst begründet werden müssen, was bei Prinzipien einen regressus in infinitum ergibt. Wohl aber lassen sich moralische Prinzipien apagogisch begründen; nun behaupte ich, dass die kantische transzendentale Deduktion eine Art des apagogischen Beweises ist, weil hier von einer notwendig existierenden Folge auf die Wahrheit des Grundes geschlossen wird, ein Grund, das Sittengesetz, existierte nicht, wenn die notwendige Folge nicht wäre. Da diese ist, muss auch der Grund sein – tertium non datur. Die Wissenschaftlichkeit der marxschen Kapitaltheorie zu unterstellen, aber den Maßstab ihrer Kritik auf das moralische Gefühl oder ein anderes nicht-diskursives Faktum zu beziehen, würde auch die Wissenschaftlichkeit der Kritik negieren. (Vgl. Gaßmann: Ethik, § 3.4.6.)
   Ein weiteres Argument für das Sittengesetz als Faktum (neben der oben genannten Maxime, die Wahrheit zu erforschen), besteht in den Folgen einer Nichtbeachtung, wenn ich die subjektive Maxime: „Ich kann jederzeit lügen“, verallgemeinern würde. Denn würde das Lügen (abgesehen von Ironie, Satire usw.) erlaubt, dürfte jeder lügen, dann würde niemand mehr dem anderen glauben, dann aber wäre Kommunikation, Kooperation und Arbeitsteilung und auch eine Gemeinschaft der Menschen unmöglich. Eine Sprachgemeinschaft, die das Lügen gestattete, direkt oder als Maxime, würde gar nicht existieren können. Die verallgemeinerbare Maxime, du sollst nicht lügen, ist dadurch eine gesetzmäßige Maxime der praktischen Vernunft als notwendige Bedingung jeder menschlichen Gesellschaft, allerdings dadurch noch nicht real universal geltend (man denke an nationalistische Propaganda). So ist die gegenteilige Maxime, „ich kann lügen, wenn es mir zum Vorteil gereicht“, in einer Konkurrenzgesellschaft gerade deshalb so attraktiv, weil sich die meisten Menschen ans Lügenverbot halten. Diese Überlegungen zeigen, dass der kategorische Imperativ bestenfalls ein Faktum der wissenschaftlichen Vernunft ist, nicht aber in jedem Menschen als Fakt implizit enthalten ist.

Kritik des Begriffs „Faktum der Vernunft“

Kuhne hatte in seinem Essay „Transformation“ behauptet: „Der Begriff der Selbstgesetzlichkeit des Menschen ist, wie Kants praktische Philosophie insgesamt, abhängig von der These, das Bewusstsein des moralischen Gesetzes sei ein ‚Faktum der Vernunft‘. Inwiefern es Kant gelungen ist, diese These einsichtig zu machen, ist seit Erscheinen der Kritik der praktischen Vernunft umstritten.“ (Transformation, S. 19/Anm. 16) Ich halte das Sittengesetz für begründet, aber nicht den Ausdruck „Faktum der Vernunft“ und auch nicht, dass er allen Menschen einsichtig ist, wenn sie nur über Morl nachdenken.
   Der Ausdruck ist zunächst selbstwidersprüchlich, wie oben mit Kuhne selbst gezeigt. Auch wenn man ihn wohlwollend als „unmittelbare Evidenz“ interpretiert, so ist diese nur dem einsichtig, der sich auf die Transzendentalphilosophie hochgearbeitet hat, diese aber ist nicht jedermann, auch nach Kant, zugänglich, weil sie ein hohes Bildungsniveau voraussetzt. Tatsächlich ist das Sittengesetz eine „neue Formel“, die Kant konstruiert hat (KpV, S. 113/A 15, Anm. *), also kann sie ebenfalls erst den Kennern seiner reinen praktischen Vernunft einsichtig sein. Kant beruft sich auf die Tatsache, dass die vorhergehenden Generationen nicht „unwissend“ gewesen seien, „in dem was Pflicht sei“ (ebd.). Doch lange Perioden in der Geschichte galt eher eine Sitte, das was üblich war, die teils bewusst, teils unbewusst befolgt wurde. Es war in jedem Fall eine Partikularmoral bezogen auf den Stamm oder das Volk. Erst in der Antike bei den Ägyptern und im Alten Testament kommt so etwas wie Moral auf als bewusstes prinzipiengeleitetes Handeln, die auch gelehrt werden musste, weil die Antagonismen in der antiken Gesellschaft gravierender wurden und nicht nur einer rechtlichen, sondern auch einer moralischen Gesinnung bedurften. Es waren dies Partikularmoralen, bei den Ägyptern eine Beamtenmoral, in Altisrael eine Moral der freien Hausherren, nicht der Sklaven. Auch die „Nikomachische Ethik“ von Aristoteles beruht auf einer Sklavenhaltergesellschaft. Als Partikularmoral stehen sie konträr zur Universalmoral, wie Kant sie vertritt, auch wenn sich bestimmte Tugenden universalisieren lassen. Die moralische Tradition ist also weitgehend nicht allgemeingültig, wenn man den Maßstab der reflektierten Vernunft wie z. B. das Widerspruchsprinzip zugrunde legt. (Vgl. Gaßmann: Freier Wille, über den Dekalog). Die Menschen werden in partikulare Verhältnisse hineingeboren und erzogen, sie folgen der üblichen Moral, heute den „moralischen Werten“, die ebenfalls eine Partikularmoral darstellen. (Vgl. Gaßmann: Kritik der Wertphilosophie) Das universale Sittengesetz von Kant ist deshalb für sie kein Faktum der Vernunft.
    Die meisten Menschen handeln heute eher nach der Sitte ihrer Umgebung als nach einer Universalmoral. Da zur Sitte gehört, dass sie z. T. unbewusst befolgt wird, kann man sich auch nicht „unmittelbar“ des kategorischen Imperativs bewusst sein, also ist er kein Faktum der Vernunft, der allen Menschen gemeinsam ist. Auch Höffe, auf den sich Kuhne beruft, schreibt: „Die Frage, ob alle Menschen sich des moralischen Gesetzes unmittelbar bewußt werden, legt sich Kant jedenfalls nicht vor.“ (Höffe: Kants Kritik der praktischen Vernunft, S. 155) Der Mensch hat nach Kant auch einen Hang zum Bösen (a. a. O., S. 263), d. i. das Befolgen unmoralischer Maximen.
   Wenn Kuhne schreibt, dass Kant hier „auf die wohl beinahe jedermann vertraute Erfahrung verweisen“ kann (siehe oben), dann ist das aus seinem literarischen Interesse heraus – gegen die „Marxologen“ – zu erklären, das Sittengesetz als Maßstab der marxschen Kapitalkritik zu implementieren. Aber dass bei jedermann das Sittengesetz als Maßstab des Handelns, wenn er nur genügend nachdenkt, vorhanden ist als Faktum, dieser Gedanke ist gar nicht nötig; das Sittengesetz kommt, soweit ich sehe, bei Marx auch explizit nicht vor. Es reicht die notwendige philosophische Begründung des Moralgesetzes, vor allem in Bezug auf die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen, um diesen Gedanken als Maßstab der Kapitalkritik in Marx‘ Hauptwerk vorauszusetzen.
   Wäre das Sittengesetz bei Kant nicht rational begründet, dann wäre auch die Ableitung, die Kuhne daraus vornimmt (S. 80), die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen, nicht rational. Zumindest ist sie nicht allein möglich, denn das Sittengesetz (als Verallgemeinerungsregel) ist nur formal, als formales kann es nach Hegel ein zusammenhängendes System von Maximen begründen, ebenfalls dazu ein konträres System. Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen aber ist eine materiale Bestimmung, wenn auch nur eine allgemeine. Um Widersprüche des bloß formalen Sittengesetzes auszuschließen, soll nach der GMS der Mensch als Zweck an sich selbst die „oberste einschränkende Bedingung der Freiheit“ sein (S. 63/BA70), dieses Moralgesetz kann deshalb nicht analytisch aus dem kategorischen Imperativ (Sittengesetz) folgen.
   Es lässt sich jedoch zeigen, dass Kant überzeugende Argumente für diese Selbstzweckhaftigkeit des Menschen anführen kann. Die zweite Gestalt des kategorischen Imperativs nach der GMS, einen Menschen niemals bloß als Mittel zu gebrauchen, kann dadurch zum Maßstab der Kritik an der Kapitalökonomie werden, die auch bei Marx explizit angenommen wird, ohne allerdings schlüssig auf eine rationale Begründung zu verweisen.

Der Mensch als Selbstzweck als Maßstab der Kapitalkritik

Das moralische Prinzip, das einen einsichtigen Maßstab der Kritik abgibt, mit der die kapitalistische Produktionsweise kritisiert werden kann, ist die zweite Gestalt des kategorischen Imperativs (nach der GMS). Dieses Moralgesetz verbietet, den Menschen als bloßes Mittel zu behandeln. Es lautet: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (GMS, S. 61) „Menschheit“ bedeutet hier nicht die Spezies Mensch als biologische Gattung, sondern das Vernunftwesen Mensch, sein moralisches Wesen, das nach Kant allen Menschen eigen ist, ob sie ihre Vernunft stark oder wenig entwickelt haben. (Vgl. Höffe: Kants Kritik der praktischen Vernunft, S. 60 u. Anm., S. 239) Selbst bei der Benutzung der Technik, die auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, ist die Menschheit als Subjekt (das Zugrundeliegende) der Theorie vorausgesetzt. (Auch Marx erkennt dieses Subjekt der Wissenschaft an (MEW 42, S. 21); vgl. auch Gaßmann: Manifest, 3. Kap., 4. Modell) Damit dieser Imperativ Maßstab des Handelns oder der Kritik in der Kapitalanalyse sein kann, muss er begründet werden. Kant hat für dieses Moralgesetz drei grundsätzliche Argumente:
1. Die pragmatische Begründung als subjektives Prinzip, das dann ein objektives Prinzip wird: Niemand will freiwillig als bloßes Mittel behandelt werden. Auch alle anderen wollen dies nicht – dadurch ist es bereits ein objektives Prinzip (GMS, S. 61)
   Wenn die Moral der Menschen den Krieg eines jeden gegen jeden beenden soll, den nach Hobbes der Naturzustand ist, nach Marx der kapitalistische Konkurrenzkampf, dann gilt e contrario über den Wert des Menschen: „(…) wenn aber aller Wert bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden.“ (A. a. O., S. 60) Konkret heißt das, es könnten Soldaten als „Menschenmaterial“ in den imperialistischen Kriegen verheizt werden, Überflüssige könnten durch Euthanasie oder Vernichtung durch Arbeit getötet werden oder das Bewusstsein der Menschen als Manipulationsobjekt durch Propaganda zerstört werden, letztlich die Menschheit durch einen Krieg mit atomaren Waffen sich selbst auslöschen. Der Wert des Menschen muss als absolut angenommen werden. Der theoretische Grund liegt im zweiten Argument:
2. Aus der transzendentalen Erkenntnisreflexion ergibt sich: Der Mensch ist kraft seiner Vernunft ein Wesen, das sich Zwecke setzen und diese verwirklichen kann. Er kann sich selbst rational begründete Gesetze geben wie die Moralgesetze, die seine Autonomie (Selbstgesetzgebung) und Freiheit beweisen. Dadurch sind die Menschen „ein Gegenstand der Achtung“ (ebd.), sie dürfen nicht zu bloßen Mitteln gemacht werden wie vernunftlose Sachen, sondern sind qua Menschsein „von absolutem Werte“ (ebd.)
3. Kant hat aber auch noch ein ontologisches Argument: Die Menschen sind nicht nur ein ontologisches Ding an sich, haben nicht nur ein intelligibles Substrat, weil sie zweckmäßig organisiert sind, Bestimmungen, die notwendig als ontologische angenommen werden müssen, auch wenn wir sie nicht kennen (negative Ontologie). Sondern es gilt: sie haben neben ihrer empirischen Kausalität auch eine noumenale (geistige) Kausalität, d. h. allein ihr Geist kann Ursache ihrer Handlungsspontaneität sein. Die Menschen sind dadurch ontologisch bestimmt als Wesen, die geistige Kausalität haben und die das auch wissen oder wissen können (vgl. Kant: KpV, S. 220 ff.). Auch dadurch haben sie einen absoluten Wert, der auch ontologisch fundiert ist.
   Dieser Maßstab zeigt sich explizit bei Marx, wenn er die Verdinglichung der Lohnarbeiter anklagt. Der Lohn dient zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft, er kann nie so hoch sein, dass er die Grenzen der kapitalistischen Reproduktion sprengt und dieses System gefährdet. „Es kann nicht anders sein in einer Produktionsweise, worin der Arbeiter für die Verwertungsbedürfnisse vorhandner Werte, statt umgekehrt der gegenständliche Reichtum für die Entwicklungsbedürfnisse des Arbeiters da ist.“ (K I, S. 649) Der Arbeiter ist bloßes Mittel der Verwertung des Werts, und im Begriff Entwicklungsbedürfnisse des Arbeiters steckt auch der Begriff des Selbstzwecks. An anderen Stellen spricht Marx diesen Begriff direkt aus (MEW 42, S. 396; u. K III, S. 828). Kritik an der Verdinglichung der Lohnabhängigen durch das automatische Subjekt Kapital setzt die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als moralischen Maßstab voraus.

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