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Rezension

Die normativen Grundlagen der Kapitalkritik bei Marx

Eine Rezension des Buches von Frank Kuhne: Marx und Kant. Die normativen Grundlagen des Kapitals, Weilerswist 2022. Erste Auflage.
    Rezensent: Bodo Gaßmann

Teil III

Zum Begriff der Freiheitbei Kant und die Kritik daran mit Marx

Kritische Theorie und die Revolutionierung der Verhältnisse

Zur Beurteilung

Weitere erwähnt Literatur

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Zum Begriff der Freiheit bei Kant und die Kritik daran mit Marx

Freiheit ist nach Kant die ratio essendi des moralischen Gesetzes, d. h. die Bedingung des moralischen Gesetzes (Sittengesetz oder die erste Form des kategorischen Imperativs nach der GMS). Allerdings können wir die Freiheit nach Kant nur beweisen, indem wir das moralische Gesetz aufstellen und anwenden. Dadurch ist das moralische Gesetz die ratio cognoscendi der Freiheit, d. h. dadurch ist Freiheit erst bewiesen (vgl. KpV, S. 108/ Anm./ A 5, 6). Diese Überlegungen führen bei Kant zu einem Begriff der Freiheit, der in emphatischer Bedeutung nur für die Aufstellung des Sittengesetzes und seine Anwendung gilt. „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen.“ Und weiter heißt es: „Wenn daher die Materie des Wollens, welche nichts anders, als das Objekt einer Begierde sein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das praktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen, und der Wille gibt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze“ (pathologisch heißt hier körperlich/sinnlich). (KpV, S. 144/A 59) Diese enge Bestimmung der Freiheit hat Folgen: Naturwissenschaftliche und technische Bestimmungen, mit denen wir Distanz zur Natur gewinnen und uns von den unmittelbaren Naturzwängen emanzipieren, sind nach Kant keine Freiheit. Diese Auffassung kritisiert Kuhne zurecht mit Marx.
   Obwohl auch nach Kant Freiheit darin besteht, „dass niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen“ (S. 340), ist diese Freiheit bei Kant eingeschränkt auf moralische Zwecke. „Aus kantischer Perspektive gilt nämlich, dass sich in Zwecken, ‚die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht‘ (TL A 11 f.), und in Handlungen nach hypothetischen Imperativen gar keine positive Freiheit artikuliert. Nur Zwecke, die zugleich Pflicht sind und Handlungen aus Einsicht in das moralisch Geforderte artikulieren Freiheit im emphatischen Sinn.“ (S. 340) Dadurch reduziert Kant „positive Freiheit auf moralische Freiheit“ (ebd.).
      Immanent lässt sich diese enge Auffassung von Freiheit kritisieren: Wenn alle Urteile des Verstandes über die Naturgesetzlichkeit eine Synthese des Bewusstseins sind (KrV, S. 137 b/B129), dann impliziert das ein synthetisierendes Subjekt, das aus allen möglichen Synthesen die auswählen muss, die durch Experiment usw. unter das transzendentale Selbstbewusstsein gebracht werden können. Ein solches erkenntnistheoretisches Subjekt aber muss Freiheit zugesprochen werden, wenn die Menschheit zum Subjekt der Objektivität geworden ist und nicht eine determinierende göttliche Seinsordnung besteht, die sich im menschlichen Denken bloß reproduziert.
   Auch wird diese Reduktion der Freiheit auf moralische in Bezug auf Kants Gesamtwerk (seine kritischen Hauptschriften) durch gegenteilige Überlegungen konterkariert. So heißt es schon in der KrV, dass der hobbessche Naturzustand als einer der Gewalttätigkeit nur überwunden werden kann durch ein Vernunftrecht, das auch mit Zwang verbunden sein muss. Danach kann „allein unsere Freiheit dahin ein(ge)schränkt (werden), daß sie mit jedes anderen Freiheit und eben dadurch mit dem gemeinen Besten zusammen bestehen könne“ (KrV, S. 688/B 780). Dieses grundlegende Gesetz einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft wird in den späteren Schriften zur praktischen Vernunft wiederholt (z. B. in MS, S. 337/A 33). Der Begriff der Freiheit, den Kant hier unterstellt, ist nicht die moralische, denn diese soll als Gesetz die materiale Freiheit der Einzelnen auf Sozialverträglichkeit allererst einschränken. Wenn Kuhne den Freiheitsbegriff mit Kant auf moralische Freiheit einschränkt, dann entspricht das einem gewissen willkürlichen Bezug auf Kants Stücke seiner Philosophie. Hinter dieser Auswahl steht vermutlich seine Intention, Kant mit Marx zu kritisieren. Wenn es aber nicht um Philologie geht, sondern um die Wahrheitsfrage, dann müsste bereits bei Kant zu entscheiden sein, welche Variante seiner Texte vor der Vernunft bestehen kann. In Bezug auf den engen Begriff der Freiheit ist allerdings die Kritik mit Marx berechtigt.
   Ein weiteres Problem ergibt sich für den Endzweck des Menschen, sein höchstes Gut (die Proportionalität von Glückswürdigkeit durch Moral und reale Glücksseligkeit). Kant hat durchaus gesehen, dass dieser Endzweck nicht allein durch moralisches Verhalten, um glückswürdig zu sein, erreichbar ist, sondern in der Gesellschaft eine Disproportionalität von Tugend und Glück besteht. Er hat deshalb u. a. das moralisch begründete Postulat eines moralischen Schöpfergottes, nicht dessen theoretischen Beweis, aufgestellt, um die Hoffnung auf den Endzweck zu retten. Kuhne kommentiert diese moraltheologische Argumentation: „Statt dass sie Gründe für eine Kritik an den durch die zweite Natur selbst hervorgebrachten heteronomen Existenzbedingungen der Menschen benennt, vertröstet sie diese aufs Jenseits. Kants Lehre vom höchsten Gut und den Postulaten reiner praktischer Vernunft ist eine solche Vertröstung, die Hoffnungslosigkeit erzeugt, wo sie dem Subjekt der Moralität Hoffnung verschaffen will.“ (S. 348) Eine Moralphilosophie, „die bei sich selbst bleibt“, wird ideologisch (Horkheimer), – das erzwingt den Übergang zur bzw. die Ergänzung durch die Gesellschaftstheorie.
   Gesteht man nun eine „moralneutrale Freiheit“ (ebd.) zu, dann ist man bei Marx, der die Verhältnisse so einrichten will, dass moralisches Verhalten mit Glück prinzipiell vereinbar ist. Dafür muss Freiheit auch außerhalb der Moral bewiesen werden. Das kann man mit Marx am Begriff der Arbeit deutlich machen. Arbeit ist allgemein zweckmäßige Tätigkeit zur Hervorbringung eines Gegenstandes. Sie setzt den freien Willen voraus, der zwischen verschiedenen Zwecken auswählen muss, die Mittel (Werkzeuge) darauf abstimmen muss und für die Verteilung der Produkte der Arbeit sorgen muss. In herrschaftlich verfassten Gesellschaften haben selbst der Sklave oder der Lohnarbeiter, obwohl ihnen die Zwecke vorgegeben sind, Teil an dieser Freiheit, insofern sie arbeiten. Das Resultat dieser Freiheit gehört den Herrschenden, auch wenn sie wie im Kapitalismus selbst unter Zwängen stehen, den produzierten Mehrwert wieder zu reinvestieren. „Nur ein ‚vernünftiges Wesen‘ wie der Mensch kann arbeiten, denn nur ein vernünftiges Wesen wie der Mensch ist Subjekt der Kausalität aus Freiheit. Als solches ist er frei in einem positiven, aber nicht-moralischen Sinn. Der strikte Dualismus von bedingter Naturkausalität und unbedingter moralischer Freiheit ist demnach nicht haltbar. Als Aneignung von Natur auf der Grundlage hypothetischer Imperative hat Arbeit zwar unmittelbar keinen moralischen Wert, sie fällt aber deshalb nicht einfach in die Sphäre der Heteronomie.“ (S. 345)
   Durch die Akkumulation von Wissen, das als Kausalität aus Freiheit aufgehoben werden kann (S. 346) und der darauf beruhenden Entwicklung der Produktivkräfte eröffnet diese Kausalität aus Freiheit, die noch unter herrschaftlichen Bedingungen des automatischen Subjekts Kapital steht (Marx: K I, S. 169), das aber durch die freie Tätigkeit von Menschen in Gang gehalten wird, die Möglichkeit der Emanzipation von Herrschaft. „Als vergegenständlichte Kausalität aus Freiheit zeigt sie an, in welchem Maße der Gattung die Befreiung von der ersten Natur gelungen ist und eröffnet die Perspektive der Abschaffung kapitalistischer Herrschaft.“ (S. 347)
   Die Kausalität aus Freiheit gegenüber der Natur und in der Gesellschaft ist zwar zunächst moralfrei, aber sie lässt sich mit der moralischen Freiheit verbinden, wenn es gelingt, solche herrschaftsfreien Bedingungen zu schaffen, die moralisches Handeln, also moralische Freiheit, ermöglichen. Dann ist die illusionäre (und deshalb ideologische) Hoffnung auf einen Gott, damit Moral und Glück zusammen bestehen kann, unnötig. Allerdings kann das niemals zu einer völligen Versöhnung von Moral und Glück führen, da die Menschen immer auch sinnliche Wesen sind, die nicht unbedingt ihrer Vernunft folgen müssen oder, wie Kant überspitzt formuliert, auch einen Hang zum Bösen haben.
   Hier muss sich aber ein Gedanke anschließen, der Kants widersprüchliche Reduktion der Freiheit auf moralische auch rechtfertigt – auch gegen Kuhne. Die moralisch neutrale Kausalität aus Freiheit, die dem Reproduktionsprozess der kapitalistischen Gesellschaft zugrunde liegt, ist nur qua Konkurrenz der einzelnen Kapitale, der kapitalistischen Nationen und ihrer Machtblöcke. Produktivkräfte werden deshalb immer wieder zu Destruktivkräften missbraucht (von den ökologischen Katastrophen, die sie erzeugen, ganz abgesehen). Dies kann bis zur Androhung eines Krieges mit atomaren Waffen gehen (vgl. Gaßmann: Manifest, Kap. 6. u. 7.). Die moralisch neutrale Kausalität aus Freiheit schlägt in Ausbeutung der Lohnabhängen und in Kriegen um, also in Unfreiheit aller – das aber heißt, frei kann nur noch das gelten, was bei Kant moralische Freiheit ist, wenn diese zum entscheidenden Grund für die Abschaffung jeglicher Herrschaftsverhältnisse wird. Dann wird die reine praktische Vernunft, die moralische Freiheit begründet, zum entscheidenden Grund auch für reale, nicht-moralische Freiheit. Ohne moralische Freiheit langfristig betrachtet keine materiale Freiheit.

Kritische Theorie und die Revolutionierung der Verhältnisse

Wenn die Kapitalanalyse zugleich Kritik an dieser Produktionsweise ist, dann muss sie auch begriffliche Vorstellungen entwickeln, wie eine höhere Gesellschaftsform aussehen und wie man dahin kommen kann. Diese Zukunftsvorstellungen können nicht in notwendig allgemeinen Urteilen, also wissenschaftlich, gefasst werden, denn ihr Gegenstand  existiert noch nicht, ihre Verwirklichung hängt vom freien Willen der revolutionären Bewegung und von der Mannigfaltigkeit zufälliger historischer Bedingungen ab. Man kann nur von bestehenden Erfahrungen ausgehen, negativen und positiven, und diese in die Zukunft extrapolieren. Und man muss die apriorischen Prinzipien der praktischen Vernunft in solch einer Zukunftspekulation produktiv machen, sodass sie nicht nur Maßstab der Kritik am Bestehenden sind, sondern auch in das Telos der Veränderung eingehen, wenn nicht eine alte Herrschaftsweise restauriert werden oder eine neue entstehen soll.
   Auf dem Stand der Argumentation von Kuhne ab dem 6. Kapitel: „Kapitaltheorie und Geschichtsphilosophie“, ist nun zu fragen, was Marx zur Revolutionsfrage sagt und ob auch die kantische praktische Philosophie dazu etwas beitragen kann. Die marxsche Kapitaltheorie steht vor einem Dilemma: Sie kann eine höhere Gesellschaftsordnung nicht „aufgrund tieferer ökonomischer Einsichten“ postulieren, sondern nur „aufgrund einer philosophischen Spekulation“ (S. 462) – dafür greift Marx auf den von ihm selbst kritisierten anthropologischen Begriff des Gattungswesens zurück, was nach Kuhne „Ausdruck einer theoretischen Verlegenheit“ sei (S. 463). Normative Kriterien für eine Veränderung der kapitalistischen Verhältnisse lassen sich nur mit Kant und unserer reinen praktischen Vernunft begründen.
   Fast alle Formulierungen von Marx, die den revolutionären Umbau wie das Ziel betreffen, werden von Kuhne kritisiert. Geht man nach dem Wahrheitsgehalt bzw. der Vernünftigkeit dieser marxschen Spekulationen, dann ist eine solche Kritik legitim, wenn sie denn triftige Argumente vorbringen kann. Kuhne will zwar nicht dem Gedanken des „Totalitarismus“ als „interessiertes Gerücht über Marx“ folgen (S. 477/Anm. 484), aber dennoch lässt er kein gutes Haar an den marxschen Argumenten. So kritisiert Kuhne bereits die Zielvorstellung von Marx, nämlich die utopische These, Arbeit können im Kommunismus „Selbstverwirklichung“ sein (S. 485). Arbeit aber ist repetitive Tätigkeit, nur ausnahmsweise Selbstverwirklichung. Diese Kritik wirft auch ein Schlaglicht auf die Formulierung: „Jeder nach seiner Fähigkeit…“. Doch dagegen hatte schon Marx selbst argumentiert, dass die Arbeit zum Reich der Notwendigkeit gehört, während der Mensch als Selbstzweck nur im Reich der Freiheit, also jenseits der Arbeit, existieren kann, das aber erst auf dem Reich der Notwendigkeit „aufblühen“ kann (Marx: K III, S. 828) – eine Stelle, die auch Kuhne interpretiert. Wenn diese Stelle aber triftig ist, dann sind es gegenteilige Behauptungen nicht, und diese allein verfallen der Kritik.
   Wenn im Kapitalismus ein verselbstständigter Mechanismus die Produktion nach entfremdeten Zwecken (Kapitalakkumulation) bestimmt, so sollen die unmittelbaren Produzenten im Sozialismus ihre Produktion nach ihren Bedürfnissen organisieren. (Marx: K I, S. 89 u. 93) Dagegen wendet Kuhne ein: Bei der Organisation der Produktion im Sozialismus fallen so viele Informationen an, müssen so viele Bereiche koordiniert werden, dass dies Einzelne nicht können, es bedarf Institutionen, die dem einzelnen Mitglied des Vereins freier Menschen autoritär gegenüber stehen. Der Anarchist Malatesta hat die These von Engels, politische Herrschaft werde abgelöst durch die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen, als „ein bloßes Wortspiel“ kritisiert: „Wer Herrschaft über Dinge hat, hat Herrschaft über Menschen; wer die Produktion beherrscht, beherrscht den Produzenten; wer über den Verbrauch bestimmt, bestimmt über den Verbraucher.“ (S. 476) Zunächst einmal ist Kuhne recht zu geben, die wenigen Bemerkungen über die nachkapitalistische Produktionsweise des Vereins freier Menschen sind nicht ausreichend, um eine sozialistische Produktionsweise zu begründen. Aber die Menschheit hat Erfahrungen gesammelt, auch im ehemaligen Ostblock, die man einbeziehen muss, wenn man heute über eine Alternative zum Kapitalismus spekulieren will.
   Zunächst einmal ist bei Malatesta der Begriff der Herrschaft problematisch, diese ist allgemein die Aussaugung eines Mehrprodukts aus den unmittelbaren Produzenten. Diese ist aber per definitionem im Sozialismus abgeschafft und der Begriff Herrschaft sollte besser durch Macht ersetzt werden. Nach Rudolf Bahro („Die Alternative“) müsse die notwendige funktionelle Hierarchie in der Organisation der Produktion und Verteilung dann von der sozialen Hierarchie, die sich privilegiert die Ergebnisse der Produktion aneignen kann („Nomenklatura“ mit eigenen Läden usw.), getrennt werden bzw. diese als machthabende verhindern. Nach dem Rätemodell, das Marx favorisiert, können leitende Funktionäre jederzeit abgelöst werden, wenn sie ihre Kompetenz überziehen. In einem vernünftigen Sozialismus wird das Produktionsziel und auch der Verbrauch nicht autoritär durch ein Politbüro bestimmt, sondern durch ein „Produktionsparlament“ oder eine ähnliche Institution, die von allen gewählt wird und in der das Mehrheitsprinzip gilt, wie polnische Dissidenten vorgeschlagen haben. Dadurch kann sich jeder mit dem Zweck der Produktion identifizieren, auch wenn er im Einzelnen eine andere Auffassung und abweichende Bedürfnisse hat, für die er aber weiter werben und Mehrheiten organisieren kann.
   Vor allem aber richtet sich die Kritik von Kuhne gegen Marx‘ Vorstellungen zum Übergang zum Sozialismus, besonders in Bezug auf die Enteignung der Kapitalbesitzer, der nur mit Repression möglich ist, ein Problem, das sich im Begriff der „Diktatur des Proletariats“ zusammenfasst. Bereits die Anarchisten haben im 19. Jahrhundert kritisch gefragt: „Wie will man es erreichen, daß eine gleiche und freie Gesellschaft aus einer autoritären Organisation hervorgeht?“ (S. 477) Die Erfahrung in Russland nach 1917 hat gezeigt, dass die „Diktatur des Proletariats“ zu einer Diktatur der Partei, daraus eine des Politbüros und schließlich die Diktatur eines Führers wurde. Diese Entwicklung war zwar auch den historischen Umständen geschuldet, aber sie wirft ein Schlaglicht auf problematische  Formulierungen von Marx und Engels. Der Begriff „Diktatur“ hatte zu Marx‘ Zeit eine andere Bedeutung als heute. Der Lateiner Marx entnahm ihn aus der antiken römischen Republik, dort bedeutete er eine zeitweise uneingeschränkte Macht eines Mannes in Kriegs- und Notzeiten, sie war nicht begrenzt durch einen Duovir oder den Senat. Der Diktator konnte aber nach einem halben Jahr für seine Maßnahmen juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Dies unterschied ihn von einem feudalen Despoten im 18. Jahrhundert, die unbegrenzte Macht hat, solange sein Terror die Stände niederhalten konnte. Bei Marx ist jedoch das Subjekt der zeitweisen Diktatur – das Proletariat. Dieses sollte in Form einer Rätedemokratie diese Diktatur gegen eine „proslavery rebellion“ der Bourgeoisie ausüben (Engels, in K I, S. 40). Engels ist mit Marx sogar der Meinung, dass „England das einzige Land ist, wo die unvermeidliche soziale Revolution gänzlich friedlich geführt werden könnte“, weil, so kann man hinzufügen, das Land demokratisch gesinnt ist (K I, S. 40).
   Die Rätedemokratie ist nach Marx „die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen kann“ (MEW 17, 342 ff.; vgl. Gaßmann: Ethik, S. 572 ff.). Aus der Fülle der Regeln der Rätedemokratie sei hier nur auf die Verantwortlichkeit der Räte gegenüber ihren Wählern verwiesen (das imperative Mandat), sodass die Räte von unten kontrolliert werden könnten. Auf diese Vorstellung von Marx geht Kuhne, soweit ich das sehe, überhaupt nicht ein. Tatsächlich ist die Überhöhung der Räteform der Pariser Kommune bei Marx unvollständig gelungen, weil bei ihr vernunftbestimmte Rechtsformen, die auch mit der Vernunftmoral übereinstimmen, fehlen, um die nun nicht mehr antagonistischen Konflikte innerhalb des Vereins freier Menschen zu regeln. (Vgl. Gaßmann: Ethik, S. 375 ff.)
   Merkwürdig bei Kuhne ist, dass er weitgehend die Unmöglichkeit einer höheren Gesellschaft, Kommunismus oder Sozialismus, zeigen will. Dann ist das Ausblenden von Marx‘ Demokratievorstellung erklärbar, aber dadurch wird auch die Ergänzung von Marx durch die praktische Vernunft von Kant wieder teilweise zurückgenommen. Was von der Kapitaltheorie und Kapitalkritik zurückbleibt, ist, wenn eine Alternative unmöglich erscheint, eine Art Nihilismus, der dem existierenden Nihilismus der kapitalistischen Produktionsweise (es fehlt das Wozu?) korrespondiert und nur noch die kontemplative Einsicht in das Falsche für sich hat.

Zur Beurteilung

Es ist ein Verdienst von Frank Kuhne, das Problem der normativen Grundlagen der marxschen Kapitaltheorie dargestellt und mit Kant gelöst zu haben. Dabei ist meine Kritik an einigen Aussagen eher eine, die auf Präzision und Stringenz geht oder ergänzen will, aber keine grundsätzliche – mit Ausnahme des akademischen Nihilismus von Kuhne, was eine Revolutionierung der Verhältnisse angeht. Das Buch von Kuhne sollte jede Arbeitsgruppe, die das marxsche Hauptwerk studiert, in ihre theoretische Arbeit einbeziehen, nicht nur der normativen Grundlagen wegen, sondern auch der von Kuhne ausführlich dargestellten Kapitaltheorie.
   An dieser Stelle sei mir eine persönliche Bemerkung gestattet. Es gibt Tendenzen bei kritischen Intellektuellen, mit einer Nebenbemerkung einen Theoretiker oder eine Position abzufertigen, ohne Argumente vorzubringen. So benutzt Kuhne abwertend den Ausdruck „Marxologen“ (S. 533) und lobt Christine Zunke, dass sie eine Ausnahme sei. Zunke zu den „Marxologen“ zu rechnen, ist, wenn man ihr Werk kennt, genauso unsinnig wie Kuhne selbst zu einen solchen zu machen. Eine andere Eigenart besteht in Kuhnes Literaturliste, die fast nur etablierte Autoren ausweist, nicht jedoch außerakademische Literatur. Sein Gewährsmann für die praktische Philosophie Kants ist Höffe, der zwar gute immanente Interpretationen abliefert, da er aber die Negativität der heutigen Gesellschaft ignoriert, wird er ideologisch wie einst die Neukantianer. Weiter hätte Kuhne meine Kritik an Kants „Faktum der Vernunft“ bereits 2018 in meiner „Ethik“ im Zusammenhang mit der Problematik von Kants Begriff der Deduktion lesen können, um die Irrationalität dieses „Faktums“ zu begreifen oder Argumente gegen mich vorzubringen.
   Wenn kritische Theorie darin besteht, die herrschenden Grundbegriffe der Ökonomie und ihrer Gesellschaft nicht nur wissenschaftlich getreu darzustellen, sondern sie auch theoretisch, weil unvernünftig, zu negieren, dann kann sie nicht nur kontemplative Kritik sein, sondern muss auf ihre reale Abschaffung drängen. Diesen Aspekt einer kritischen Theorie erörtert Kuhne im 6. und 7. Kapital seines Buches als eine Kritik des marxschen Konzepts einer Umgestaltung, die mehr oder weniger vernichtend ausfällt. Kuhne sieht die marxsche Revolutionstheorie und ihre Gründe insgesamt kritisch, vernachlässigt dabei aber auch vernünftige Ansätze.
   Der Autor kann sich dabei auf Überlegungen aus der Kapitaltheorie selbst stützen, die gegen ein revolutionäres Bewusstsein sprechen, theoretisch und real in der Geschichte. „Die Selbstverwertung des Kapitals schließt Reallohnsteigerungen und bessere Lebensverhältnisse nicht aus, auch wenn sie immer wieder erkämpft werden müssen. Der Klassenkampf gehört zum Selbstlauf des Kapitals.“ (S. 546) Eine absolute Verelendung ist damit in den entwickelten kapitalistischen Ländern ausgeschlossen, auch wenn es Randgruppen gibt, die im Elend leben. Wenn immer mehr produziert wird, erzwungen durch den verselbständigten Mechanismus der Kapitalakkumulation, dann wird der ständige Verweis auf das materielle Elend des Proletariats schal. Er zitiert zustimmend Marcuse: „Die Entwicklung der kapitalistischen Produktivität brachte (…) die Entwicklung revolutionären Bewußstseins zum Stillstand‘ konstatiert Marcuse 1941, und schließt eine These an, die auf seine spätere Kritik des ‚wohlfahrtsstaatlich‘ organisierten Kapitalismus vorausdeutet: ‚Der technische Fortschritt vermehrte die Bedürfnisse und die Mittel, sie zu befriedigen, wobei seine Ausnutzung sowohl die Bedürfnisse als auch die Mittel ihrer Befriedigung repressiv machte: gerade sie erhalten Unterwerfung und Herrschaft aufrecht.‘“ (Marcuse, zitiert nach S. 547) Dagegen spricht jedoch, dass absolutes Elend sich in die ökonomisch unterentwickelten Länder verschoben hat. Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem ist uninteressiert an überflüssigen Arbeitskräften. Das zeigt sich an der Zahl der Hungernden auf der Erde, 1993 betraf der Hunger 800 Millionen, 2022 ca. 845 Millionen Menschen. Auch die Arbeitenden in den entwickelten Ländern sind durch Kriege des politischen Personals des Kapitals immer wieder in materielle Not geraten.
   Die Folge dieser Tendenz weg von unmittelbarer Not ist die Abnahme eines revolutionären Klassenbewusstseins. Die Arbeiterklasse in ihrer großen Mehrheit folgt ihren Interessen in der bestehenden Produktionsweise „mit systemkonformen Mitteln“ (ebd.), nicht aber ihr moralisch fundiertes Interesse an der Abschaffung der Kapitalproduktion und deren Folgen. Der Zwang, seine Arbeitskraft zu verkaufen, schafft eine psychische Disposition, die den Erfordernissen dieser Ökonomie entspricht (vgl. bereits Marx: K I, S. 765).
   Wenn selbst nach Marx „Surplusarbeit“ auch im Sozialismus nötig ist (K III, S. 827/ Kuhne 547), was ist dann, so fragt Kuhne, das „Skandalöse an der kapitalistischen Produktionsweise“? Das hätte Kuhne ausführen müssen, stattdessen hebt er allein einen moralischen Aspekt hervor (siehe unten).
   Kapitalismus bedeutet ständige Akkumulation von Kapital, dieser Mechanismus ist unabhängig vom Willen der Kapitaleigner und ihrer Manager, weil sie ohne ständig die Produktivität zu steigern ihr Eigentum verlieren würden. Die Folgen sind u. a. ein Raubbau an der Natur und die Zerstörung einer lebenswerten Umwelt; die Folgen sind ein ständig steigender internationaler Konkurrenzkampf, der bis zum Krieg führen kann; die Folge ist ein moderner Imperialismus, der Kampf um Rohstoffquellen, Absatzmärkte, Kapitalexport und Handelswege, mit ihrem geostrategischen Streben um Einfluss; und nicht zuletzt die Drohung eines Weltkrieges mit atomaren Waffen, der die Menschheit als biologische Spezies auslöschen könnte.
   Das Problem der Moral hat sich heute gegenüber Kants Zeiten dahingehend verschoben, dass nicht einfach Vernunftmoral, als Voraussetzung den kriegerischen Naturzustand zu überwinden, gegen die Sinnlichkeit der Menschen steht, sondern die langfristigen Interessen an einer vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft gegen die unmittelbaren Interessen in der kapitalistischen Produktionsweise nach besseren Lebensbedingungen.
   Für Kuhne ist die Pointe seiner Kritik an Marx‘ Vorstellung einer revolutionären Veränderung, die er versucht zu widerlegen, dass der entscheidende Grund für eine mögliche Empörung gegen das kapitalistische System die Moral ist. Sein Buch endet mit einem Kantzitat. Zur Frage, warum Empörung, sagt er: „Der Sache nach ist die Frage nur zu beantworten, wenn gegen die wirkmächtigen materialistischen und naturalistischen Weltanschauungen und gegen den Positivismus jeder Couleur daran erinnert wird, dass der Mensch zwar ‚zur Sinnenwelt gehört und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag, von Seitens der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern (…) Aber er ist doch nicht so ganz Tier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein.‘“ (KpV, S. A 109; zitiert nach S. 548) Mit dieser anthropologischen Aussage fällt er auf den Standpunkt von Kant zurück, der eine „Moralisierung“ der Gesellschaft, der bürgerlichen, für möglich hielt, wenn die Menschen nur aus ihren negativen Erfahrungen lernen würden.
   Dass eine Moralisierung der bürgerlichen Gesellschaft nicht möglich ist, weiß Kuhne, er lässt seine Leser aber zurück mit diesem Appell, statt dass seine implizite Klage über den Mangel an Vernünftigkeit bei den Menschen zur Anklage wird und auf ein Konzept der Aufklärung setzt, wie es der Tradition der kritischen Theorie entspricht und wie ich es in meinem „Manifest“ angedeutet habe.

Weitere erwähnte Literatur
 
Bahro, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln 1977.
Gaßmann, Bodo: Autonomie oder Heteronomie? Zur Ethik als praktische Philosophie der Veränderung. Mit einer Rezension von Arno Kaiser, Garbsen 2019.
Gaßmann, Bodo: Die Entdeckung des freien Willens als eigenständiges Vermögen durch Augustin. Mit der Reflexion des Dekalogs und der Rolle der Moralität bei Abaelard. Schriften des Dialektikvereins zu Problemen der Ethik 3, Garbsen 2021.
Gaßmann, Bodo:  Die Negation der praktischen Vernunft als Negation der kritischen Theorie. Ein Kommentar zu dem Kant-Modell „Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft“ aus der „Negativen Dialektik“ von Adorno, Garbsen 2021.
Gaßmann, Bodo: Ethik als praktische Philosophie der Veränderung. Erster Teil: Die systematische Argumentation (2 Bde.), Garbsen 2018.
Gaßmann, Bodo: „Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion. Über die Selbstzerstörung der bürgerlichen Vernunft, Garbsen 2014.
Gaßmann, Bodo: Manifest der Autonomie der kritischen Philosophie. Die geistige Situation der Zeit und die Aufgaben des emanzipatorischen Denkens, Garbsen 2023.
Gaßmann, Bodo: Zur Geschichte der bürgerlichen Moralphilosophie. Zweiter Teil der „Ethik als praktische Philosophie der Veränderung“, Garbsen 2019.
Höffe, Ottfried: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit, München 2012.
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Hamburg 1976. (KrV)
Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. in: Werke Bd. 7. Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975. (MS)
Kuhne, Frank: Begriff und Zitat bei Marx. Die idealistische Struktur des Kapitals und ihre nicht-idealistische Darstellung, Lüneburg 1995.
Kuhne, Frank: Selbstbewusstsein und Erfahrung bei Kant und Fichte. Über Möglichkeiten und Grenzen der Transzendentalphilosophie, Hamburg 2007.
Kuhne, Frank: Transformation der praktischen Philosophie in kritische Theorie der Gesellschaft? Zum Problem der normativen Grundlage des Kapitals und der Kritischen Theorie“, Quelle: www.kritiknetz.de .
Marx/Engels: Werke, Berlin 1965 ff. (MEW)
Marx, Karl: Kapital Bd. I, (K I)
Marx, Karl: Kapital Bd. III (K III)
Marx: Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW 17, S. 313 ff. (Zur Rätedemokratie)

 

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Letzte Aktualisierung:  06.03.2023

                                                                       
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